Festnahmewelle in der Türkei

Der türkische Ministerpräsident Erdogan will per Gesetz verhindern, dass enge Mitarbeiter und Geheimdienstler ohne seine Zustimmung von der Staatsanwaltschaft vorgeladen werden. (Bild: World Economic Forum/flickr; Lizenz: CC BY-SA 2.0)

22. Februar 2012
Ulrike Dufner

Die Verhaftungswelle in der Türkei geht weiter. Mittlerweile ist es Alltag geworden, dass Menschen aufgrund des Anti-Terror-Gesetzes ins Gefängnis müssen. Eine Nachricht ist das nur wert, wenn es sich um besonders drastische Operationen handelt, bei denen die Behörden an zahlreichen Orten gleichzeitig Verhaftungen durchführen und viele Personen verhaftet werden.

So etwa vergangene Woche, als sich die staatlichen Maßnahmen gegen Gewerkschafter und besonders auch Frauenrechtlerinnen richtete. Mittlerweile dürfte die Anzahl der nach dem Anti-Terror-Gesetz verurteilten Personen zwischen sechs- und siebentausend liegen. Einen Überblick hat kaum jemand. Die Anklagen beziehen sich in der Regel auf Unterstützung oder Mitgliedschaft in der KCK, eine Organisation, die angeblich der verbotenen kurdischen PKK nahe steht, oder Ergenekon, einer kriminellen Vereinigung, die den Sturz der Regierung zum Ziel hat.

Verwirrung aber löste die Vorladung des türkischen Geheimdienstchefs Hakan Fidan und weiteren leitenden Angehörigen des Geheimdienstes MIT vor das Istanbuler Sondergericht aus, das im KCK-Verfahren ermittelt. Grund der Vorladung: Der Staatsanwaltschaft zufolge liegen Indizien vor, wonach Geheimdienstchef Fidan in kriminelle Handlungen der KCK verstrickt sei.

Pikant ist dabei, dass die Regierung von der Vorladung nichts wusste. Und das, obwohl Fidan als enger Vertrauter von Ministerpräsident Erdogan gilt und in den Medien als einer der Architekten der so genannten „kurdischen Öffnung“ und Verhandlungen mit der PKK gehandelt wird. Dem Staatsanwalt des Sondergerichtes, Sarikaya, wurden unmittelbar nach Bekanntwerden seines Vorhabens die Ermittlungen in dem KCK-Verfahren entzogen. Die Regierung hoffte, damit die Sache zu bereinigen. Allerdings stellte sich die Staatsanwaltschaft hinter ihren abgesetzten Staatsanwalt und wiederholte, dass es notwendig sei, Fidan und andere Schlapphüte zu verhören. Daraufhin kündigte die Regierung ein Gesetz an, das verbietet, führende Personen des Geheimdienstes oder von Erdogan mit Sonderaufgaben betraute Personen vorzuladen, ohne die Zustimmung des Ministerpräsidenten einzuholen. Dieses Gesetz hat das türkische Parlament bereits verabschiedet, Staatspräsident Gül hat es unterzeichnet.

Die Opposition ist gegen das Gesetz, weil es ihrer Meinung nach die Macht des Ministerpräsidenten stärke und ihm die Möglichkeit gebe, einen zweiten „tiefen Staat“ abzusichern. Dieses Gesetz sei ein Schritt, gesetzeswidrige Praktiken zu decken und mit demokratischen Standards nicht vereinbar. Auch in der Vergangenheit habe die Regierung bei der Vorladung von Geheimdienstlern keinen Handlungsbedarf gesehen. Warum also jetzt? Die Opposition fordert, stattdessen die Sondergerichte abzuschaffen. Außerdem argumentiert sie, dass die Regierung bei ähnlichen Vorgängen nicht die Zustimmung des Ministerpräsidenten forderte. Die politischen Beobachter sind sich uneinig, wie diese Entwicklungen zu bewerten sind. Man stellt verschiedene Überlegungen an, wem dieses Ereignis nützt, um daraus Schlüsse auf die Hintergründe dieses unglaublichen Ereignisses zu ziehen.

Zurzeit gibt es in den Medien zwei Interpretationen:

Die erste Interpretation geht davon aus, die Vorladung von Fidan sei im Kontext der Kurdenfrage zu verstehen. Es handle sich um einen Konflikt zwischen „Falken“ und „Tauben“. Indem man „Erdogans“ Mann vorlade, würden angebliche Pläne der Regierung, eine zweite kurdische Öffnung vorzubereiten, zunichte gemacht. Denn auch die Regierung sei von den „ausufernden“ Verhaftungswellen im Rahmen des KCK-Verfahrens beunruhigt.

Die Regierung unter Erdogan hat im vergangenen Jahr jedoch nicht signalisiert, von der Kriminalisierung der kurdischen Opposition abzurücken. Im Gegenteil, Erdogan betonte immer wieder, diesen Weg bis zum Ende gehen zu wollen. Die Regierung zeigte auch kein Unbehagen, wenn es um die Verhaftung von Intellektuellen wie Ragip Zarakolu oder Büsra Ersanli ging.


Justizminister Ergin hat ein Reformpaket eingereicht, das zurzeit in den Parlamentsausschüssen beraten wird. Allem Anschein nach werden diese umfassenden Reformen die Dauer der Haftstrafen verkürzen. An dem schwammigen Terror-Begriff rüttelt man jedoch nicht. Solange das nicht passiert, werden die Sondergerichte weiter bestehen. Solche Reformen sind ein Schritt in die richtige Richtung, greifen jedoch viel zu kurz.

Die zweite Interpretation geht von einem lange schwelenden Konflikt zwischen Erdogan und der Fethullah Gülen-Bewegung aus, der nun offen zu Tage getreten sei. Diese habe sich in der Justiz und Polizei ausgebreitet und sei für die Verhaftungswellen verantwortlich. Die Gülen-Bewegung trete außerdem für eine harte Gangart in der Kurdenfrage ein, wohingegen die AKP einen anderen Kurs einleiten wolle. Mittlerweile sei die Organisation der Regierung entglitten und strebe danach, ihre Macht auszuweiten.

Manche Kommentatoren glaubten sogar, die AKP werde bei dem Parlamentsvotum zu Erdogans neuem Gesetz die Untersützung der Gülen-nahen AKP-Abgeordneten verlieren. Auch wenn es bisher keine Anzeichen dafür gibt, dass der Machtkampf auf diese Weise ausgetragen wird und aus meiner Sicht zu keiner Zeit Anlass zum Zweifel über die Durchsetzungsfähigkeit Erdogans im Parlament gab, so ist dennoch denkbar, dass es in einzelnen Sachfragen Differenzen zwischen verschiedenen Strömungen innerhalb der AKP oder auch zwischen der AKP und der Fethullah-Gülen-Gemeinde gibt. Inwieweit die Fethullah-Gülen-Gemeinde aber wirklich eine relevante politische Kraft ist und wie sie sich von der AKP unerscheidet, ist zurzeit noch unklar.

Den Geheimdienstchef wegen Indizien vorzuladen, die ihn in die Nähe krimineller Machenschaften der KCK rücken, ohne zuvor die Regierung zu informieren, stellt die Regierung bloß. Bis heute kann keiner der politischen Kommentatoren diesen Vorgang überzeugend erklären. Indem die Regierung den Staatsanwalt abgezogen und per Gesetz weiteren derartigen Vorfällen vorgebeugt hat, zeigte sie zumindest im konkreten Fall Handlungsfähigkeit und Durchsetzungsvermögen. Eine Handlungsfähigkeit, die sie auch schon früher in anderen Fällen hätte zeigen können.

Der aus dem Krankenstand zurückgekehrte Ministerpräsident Erdogan beschwört die Medien, keine Krise herbeizureden und zur Tagesordnung überzugehen. Der Ministerpräsident ist mit weiterer Macht ausgestattet worden. Ob dies den Autoritarismus in diesem Land einen Schritt weiter vorantreibt, wie die Opposition befürchtet - oder aber eine unkontrollierbare Justiz damit gebändigt wurde, wie andere glauben, dürfte sich in den kommenden Monaten zeigen.

Ahmet Altan erklärte in diesen Tagen in einem Artikel, warum diese Lösung nicht von Dauer sein wird: Das ständige Reformieren von Gesetzen gleiche einem Haus, dessen Statik durch ständiges Anbauen neuer Zimmer gefährdet ist. Und diese Haus ist verdammt, irgendwann zusammenzubrechen.

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Ulrike Dufner leitet das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul

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